C. Bochinger: Religionen, Staat und Gesellschaft

Cover
Titel
Religionen, Staat und Gesellschaft. Die Schweiz zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt


Herausgeber
Bochinger, Christoph
Erschienen
Zürich 2012: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Paul Michael Zulehner, Wien

Es liest sich für einen an der Entwicklung einer modernen Kultur Interessierten wie ein Wissenschaftskrimi. Übersichtlich aufbereitet, in hochwertigem, mehrfarbigem Druck bringt es die Religionsforschung in der Schweiz auf eine hochaktuellen Stand. Vorgestellt wird das Ergebnis von 28 Teilstudien, die im Projekt 58 des Schweizer Nationalfonds gebündelt waren. Die Initiative dazu gestartet hatte dermal nicht die Wissenschaft, sondern – was für das Thema allein schon ein «Ergebnis» ist – die Politik: vertreten durch das Bundesamt für Justiz. Im Hintergrund steht die für viele, die der Religion in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft den Untergang prognostiziert hatten, überraschende Wiederkehr der Religion auf die politische Bühne, die José Casanova (Public Religions in the Modern World, Chicago 1994) schon vor Jahren beobachtet hat: die Religion findet sich in der Ausländerpolitik, es geht um Minarett und Burka, neuestens um die Beschneidung und die heikle Frage, ob diese eine strafbare Körperverletzung ist – eine Sensibilität, die angesichts weithin gesellschaftlich breit akzeptierter «Körperverletzung durch Abtreibung» doch ein wenig überrascht und die Frage aufwirft, ob es wirklich um das Kindeswohl oder doch um eine Variation eines aufkeimenden «clash of worldviews» geht. Das interdisziplinär angelegte Megaforschungsprojekt dreht sich daher um das Verhältnis Religionen, Staat und Gesellschaft – wobei der Fokus (aus verständlichem Interesse der politischen Auftraggeber) doch mehr beim Verhältnis Religionen und Politik verweilt.

Der Untertitel des Buches «…zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt» bedarf der Präzisierung. Ohne eine solche kann er irreführen: Als ob die moderne Kultur der Schweiz vor den Alternativen Säkularisierung oder Pluralisierung stünde. Die beiden Begriffe liegen, wenn man den vorgelegten Befunden traut, nicht auf der gleichen Ebene. Vielfalt prägt nämlich nicht nur die Religionsgemeinschaften in sich. Es handelt sich auch nicht nur um die Koexistenz verschiedener Religionen in einem einzigen Land. Vielfalt, Pluralisierung – oder wie ich sie, gestützt auf die Langzeitstudie Religion im Leben der Menschen 1970–2010 genannt habe, «Verbuntung» (Verbuntung. Kirchen im weltanschaulichen Pluralismus; Religion im Leben der Menschen 1970–2010, Ostfildern 2011) scheint die weltanschauliche Dimension (post)moderner Kulturen am besten begrifflich einzufangen. Zu dieser bunten Vielfalt gehören «säkulare (atheistische, atheisierende) Weltdeutungen» ebenso wie die durchorganisierten Religionen, aber auch die vielfältigen spirituellen Pilgerinnen und Pilger, die sich manchmal lose vernetzen (Hervieu-Léger, Danièle, Le pèlerin et le converti. La religion en mouvement, Paris 2001). Das neue an den vielfältigen Teilforschungsergebnissen besteht ja gerade darin, dass die alte Säkularisierungsannahme wissenschaftlich out ist und sie sich auch nicht durch die Alternative des «zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt» durch die religionsforscherische Hintertür wieder retten lässt. Es gibt in der brodelnden weltanschaulichen Dimension unserer Kultur natürlich atheistische und atheisierende Ströme, aber ebenso spirituelle, agnostische, skeptische, religiöse und diese alle in unterschiedlichen schillernden Unterfärbungen – eben Verbuntung pur.

Der vorliegende Bericht des Grossprojekts der Schweizer Religionsforschung, der die Ergebnisse vieler Teilprojekte querliest und aufbereitet, greift logische Teilthemen über die Lage und Entwicklung der Religionen auf: Der Luzerner Religionswissenschaftler Martin Baumann gibt im längsten Beitrag eine Einführung in den Stand der Religionsdebatte und präsentiert übersichtlich die wichtigsten Ergebnisse. In der Folge werden im Buch Teilaspekte gesondert vorgestellt, deren Auswahl sich theoretisch der wachsenden Distanz von Institution und Person verdankt, mit denen Entwicklungen wie Privatisierung sowie Deinstitutionalisierung verwoben sind. Jörg Stolz von der Universität Lausanne widmet sich dem Verhältnis von Religion und Individuum; am Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit arbeiteten Luzius Mader und Mark Schinzel (beide vom auftraggebenden Bundesamt für Justiz in Bern); das juristische Sonderthema der Auswirkung der religiösen Pluralisierung auf die staatliche Rechtsordnung behandelt René Pahud de Mortanges von der Universität in Freiburg. Die Entwicklung der weltanschaulichen Dimension über Generationen hinweg ist Thema des Beitrags von Irene Becci aus Lausanne. Der Präsident der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms 58, Christoph Bochinger aus Bayreuth, bündelt noch einmal in der Zusammenfassung wichtige Resultate der Studien und versucht, die erkennbaren Entwicklungslinien in die Zukunft auszudeh nen; es werden auch Grenzen und weiterer Forschungsbedarf aufgezeigt.

Mutig ist, dass sich wissenschaftliche Experten nicht scheuen, für die unbestritten erforderliche «neue» Politik Empfehlungen zu formulieren. Dabei ist den Experten grundsätzlich klar, dass dies im Grund eine Leistung ist, die den politisch Verantwortlichen – also dem Schweizer Volk und seinen gewählten Repräsentantinnen und Vertretern – nicht abgenommen werden kann. Es zeigt sich, dass auch die Religionsforschenden nicht frei sind von politischen Zielen, die natürlich auch in die Erhebung von Daten, in die den qualitativen wie quantitativen Surveys zugrundeliegenden Hypothesen sowie deren Interpretation unweigerlich einfliessen. So scheint sich heute rückblickend die Säkularisierungshypothese zunehmend als subtiles Wunschdenken von Forschenden zu entpuppen. Als solide Grundlage für die fachwissenschaftliche Bearbeitung der realen Entwicklungen taugt sie nicht mehr. Das Bild von der Verbuntung hat sie abgelöst. Schon gar nicht eignet sie sich für die Entwicklung von Prognosen, weil deren Unsicherheit durch die wachsende Krisenlage der Menschheit immer grösser wird.

Ein latentes forschungsleitendes Interesse der vorgelegten Studien und ausgewählten Ergebnisse ist mit Sicherheit – und wer wollte gegen dieses ernsthaft etwas einwenden – eine Religionspolitik, die dem Frieden im Land dient. So ist eine wichtige Empfehlung an die Politik, dass sie zwischen der Skylla der «Befürwortung des religiösen Pluralismus » und der Charybdis der «Ablehnung religiöser Pluralität» durchfindet zu einer friedvollen «Akzeptanz religiöser Pluralität». Es erschwere, so eine wichtige Einsicht, die Integration beispielsweise türkischer Muslime, wenn medial und durch politische Diskurse der Eindruck sich verfestigt, Schweizer= Christ und Türke=Moslem; das würde dem Türken signalisieren, akzeptierter Schweizer nur als Christ werden zu können. Politik wie Medien sind an diesem dramatischen Phänomen des «Kulturchristentums», wie ich es für Österreich nannte, mitschuld: Auch Personen, die individuell kaum Christen sind, beanspruchen das Christentum neuerdings zur Identitätsbestimmung des Schweizers, der Europäers. In Österreich sind etwa 70% solchen Kulturchristen zuzuzählen, von denen in etwa die Hälfte friedlich auf den Dialog setzt, die andere Hälfte hingegen aggressiv die Nichtchristen ausgrenzt. Folgerichtig werden in den Empfehlungen vor allem die Medien in die Pflicht genommen, und hier wieder die Journalisten, denen eine fatale Inkompetenz in religiösen Belangen bescheinigt wird, was dazu führt, dass es zu negativen Diskriminierungen (Islam) und positiven Stigmatisierungen (Buddhismus) sowie «Ausschnittswahrnehmungen» (Landeskirchen) kommt, die der Realität der Religionen, ihrer Lehren und ihrer realen Praxis nicht entsprechen. Dass der organisierte Atheismus und verwandte weltanschauliche Gruppen kaum in den Blick genommen werden, ist eine der schmerzlichsten Lücken des Forschungsprogramms. Hoher Entwicklungsbedarf wird auch bei der Selbstdarstellung der Religionen in den Medien geortet. Und nicht zuletzt gilt es auch, die Sozialisationsleistung der muslimischen Religionsgemeinschaft durch eine entsprechende fachdidaktische Ausbildung von Imamen zu verbessern. Insgesamt sind auch – das wäre in den Empfehlungen zu vermerken gewesen – die Universitäten gefordert. Es müsste der Religionsdialog vorangetrieben werden. Eine islamische Fachdidaktik wäre universitär anzusiedeln. Es wäre auch erforderlich, dass die Religionsgemeinschaften die Ausbilder der religiösen Vermittler (Religionslehrer, Imame) akademisieren und in der Schweiz ausbilden. Es geht nicht an, dass in Saudi-Arabien trainierte Imame ohne Kenntnis der deutschen Sprache islamische Kinder in Schweizer Schulen unterrichten. Die Schweizer Universitätskonferenz verfolgt dieses Anliegen und die Universität Luzern richtet gerade ein Zentrum für komparative Theologie ein, wo der Dialog zwischen den Theologien/ Religionen forciert werden soll. Vielleicht sollten hier auch Module für eine entsprechende Qualifikation der Journalisten angedacht werden.

Das gesamte Forschungsprojekt wie die vorliegende Präsentation wichtiger Ergebnisse samt Empfehlungen sind ein Glücksfall: für die interdisziplinäre Religionsforschung selbst, ebenso aber für die Entwicklung der weltanschaulichen Gruppen, für ihr Verhältnis zueinander, ihr Verhältnis zu den Menschen im Land sowie nicht zuletzt der Bildungseinrichtungen wie der Medien, denen eine hohe Bedeutung für den weiteren religionspolitischen Kurs in der modernen Schweiz zukommt.

Zitierweise:
Paul Michael Zulehner: Rezension zu: Religionen, Staat und Gesellschaft. Die Schweiz zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt, hg. von Christoph Bochinger, Zürich, Verlag Neue Züricher Zeitung, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 756-759.

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